la kritze

Samstag, 7. März 2015

Ein Bouquet aus kleinen Astern

 
In der Gaststätte werde ich geduldet, da man mich kennt. Früher kam ich häufiger her, dienstlich, und blieb dann zwei, drei Tage länger zum eigenen Vergnügen. L. ist eine Stadt, die zum Verweilen lädt. Viel Natur und Ruhe rundherum, und kaum ein Mensch, der ein verdrießliches Gesicht zieht.
Ich habe für fünf Tage im Voraus gezahlt. Am sechsten teilte ich der Wirtin mit, ich würde fünf weitere bleiben, und unter dem Vorwand der Erwägung einer weiteren Verlängerung meines Aufenthalts habe ich darum gebeten, am Tage der Abreise abkassiert zu werden. Sie hat sich einverstanden erklärt, wenngleich betont, dass dies nicht üblich wäre, sie bei Stammgästen aber ein Auge zudrücken würde – und sie hat tatsächlich ein Auge zugedrückt, hat mir verschwörerisch zugeblinzelt und den Quittungsblock in die Schublade zurückgesteckt. Ich meine, sie hofft, dass ich eines Tages die Tochter zur Frau nehme. Eine bessere Partie kann sie sich nicht vorstellen, wähnt sich mich doch weiterhin im Verwaltungsdienst und mit einem gesicherten Einkommen.
Die Tochter ist ein kauziges Ding, dass sich nur zu den Abendstunden heraus traut. Sie hat ihr Zimmer im Obergeschoss, gleich neben meiner Tür. Nachts kann ich sie singen hören und wundere mich, dass sich niemand anderes daran zu stören scheint. Es fällt mir nicht ein, so eine zur Frau zu nehmen.
Für fünf Tage kann ich aufkommen, bevor meine Ersparnisse aufgebraucht sind. Ich gebe zu, früher nachlässig gewesen zu sein. Kaum war das Monatsgehalt auf dem Konto, bin ich durch die Kneipen gezogen, durch die Restaurants, habe viele Abendstunden im Kino zugebracht und mich eingekleidet, mit Hemden und Schuhen. Das kommt nun dabei heraus. Ich besitze überflüssig viele Schuhe, aber das Abendessen in der Stube kann ich mir nicht mehr leisten. Die Wirtin war entsetzt, als ich ihr mitteilen musste, ich würde von nun an abends in der Stadt essen. Ob mir die Haxe nicht mehr schmecke, hat sie gefragt.
Doch, die Haxe ist vorzüglich. Ebenso die Klöße und das Sauerkraut. Selten habe ich anderweitig so gut essen dürfen, und wenn, dann war es ein Versehen, das sich im gleichen Lokal kein zweites Mal wiederholen ließ.
Mein Zimmer ist klein und rustikal, aber mit einer schönen Aussicht zur Straße. Von hier aus kann ich auf das gemächliche Treiben unter meinem Fenster sehen. Seit den frühen Morgenstunden hat der Markt geöffnet. Äpfel und Birnen, Kürbisse, Zucchini, alles aus der heimischen Landwirtschaft. Auch der Wein. Einst bin ich durch die Weinstöcke gewandert, aber viel verstehe ich davon nicht. Für die kleine Winzerin dagegen habe ich einen Blick.

Es klopft an der Tür, die Wirtin kündigt sich an.
„Ihr Bett muss neu bezogen werden“, sagt sie, das Gesicht gerötet von der Anstrengung des Treppensteigens. Sie ist nicht mehr die Jüngste und schlank wird sie wohl nie gewesen sein. „Ich werde die Tochter sofort darum bitten.“
„Lassen Sie nur, das mache ich schon.“
„Aber nein, Sie sind unser Gast.“
„Nur keine Umstände, wirklich!“ Ich nehme ihr die Laken aus der Hand. „Es wäre mir nicht recht. Ich sehe mich längst nicht mehr als Gast“, sage ich dann, so etwas hört sie gerne. Sie schätzt den vertrauten Umgang.
„Wollen Sie zum Frühstück herunterkommen?“
Ich verneine und schiebe eine Magenverstimmung vor. Tatsächlich aber wird mir der Mund wässrig bei dem Gedanken an ein hartgekochtes Ei und ein Brötchen mit Marmelade. Ich trage ein flaues Gefühl in mir. Es schwindelt im Kopf, mich drängt an die frische Luft. Ich nehme mir meinen Mantel und trete mit der Wirtin auf den karg ausgeleuchteten Flur. Tagsüber lässt sie die Lampen aus und die schmalen Fenster sind aus Glasbausteinen, aber nicht zur Sonnenseite angebracht.
„Machen Sie sich keine Mühe, Sie haben genug zu tun“, sage ich und lege ihr die Hand auf den Rücken, um sie unauffällig weg von der Tür zu bewegen. Ich hege den Verdacht, dass sie in meiner Abwesenheit das Zimmer durchstreift, daher habe ich vorsorglich alle wichtigen Habseligkeiten versteckt, zwischen Handtüchern und im zweiten Schuhpaar, auch hinter dem Heizkörper.
Den Schlüssel drehe ich demonstrativ mehrfach im Schloss herum. Mir ist Privatsphäre wichtig, das soll sie sich einprägen. Aus dem Speisesaal dringt Kaffeegeruch herauf. Es klimpert das Besteck auf Tellern. Die übrigen Hausgäste machen sich über das Buffet her.
Gerade ist ein junger Reisender angekommen. Vom Geländer aus sehen wir zu ihm herunter, die Wirtin und ich, wie er verloren im Eingangsbereich steht und den Kopf zu allen Seiten dreht. Vor seinen Füßen hat er einen großen Koffer platziert und gedenkt wohl eine Weile zu bleiben.
„Herrje“, murmelt die Wirtin und beschleunigt ihren Schritt. „Guten Morgen! Entschuldigen Sie!“, höre ich sie rufen, als sie die Stufen hinunter eilt.
Es ist die erste Herbstwoche, offiziell, mitten im September, und die Luft ist angenehm klar, so ist es mir am liebsten. Meinen Schwermut trage ich in den heißen Tagen. Einem wolkenlosen Himmel fehlt es an Charakter, dem Sommer weiß ich nichts abzugewinnen. Der Wind zwickt mir in die Wangen. Ich ziehe den Mantelkragen hoch und grabe das Gesicht hinein. Das Lächeln, das ich der kleinen Winzerin beim Vorübergehen zukommen lassen, bleibt selbiger verborgen. Sie wickelt für einen Käufer die Flaschen in Papier. Routiniert, aber mit Sorgfalt, geht mein geschäftiges Mädchen zu Werke.
Das Kleingeld klimpert in meinen Manteltaschen. Das Kleingeld muss ich mir gut einteilen. Mein karges Frühstück ist ein Kaffee und ein Croissant, wie bei den Franzosen üblich. Habe mir abgeguckt, das Croissant in den Kaffee zu tunken. Sonst ist wenig französisch an mir. Vor fünf Tagen bin ich bei einem Vorsprechen gewesen. Das Stadttheater hat Nebenrollen zu besetzen für die kommende Spielzeit. Man hatte mir aufgetragen, mich vorzustellen. Ich nannte meinen Namen, meinen Wohnort, erklärte, dass ich gerade dabei sei, mich neu zu erfinden, zuvor mehrere Jahre angestellt gewesen war, aber keine Erfüllung darin gesehen hätte. Und nun die Schauspielerei. Eine wahre Leidenschaft. Ich bin ein guter Schauspieler. Man merkt es mir kaum an.

Ziellos laufe ich umher. So sehr ich mich mit L. verbunden fühle, es gibt Tage, da erschließt sich die Stadt mir nicht. Ein längst vertrautes Gefühl von Fremdheit stellt sich dann ein; das Herz, das kein Zuhause kennt, will nicht zur Ruhe kommen.
Es sind Momente dieser Art, die mich an V. denken lassen und ich beginne zu vermissen. Zum Stadtpark zieht es mich hin. Ich suche mir eine Bank hinter den Rotbuchenhecken und sehe Kindern beim Spielen zu. Ein Taubenpaar flaniert selbstvergessen an mir vorüber. Ich trete nach ihnen und treffe sie nicht. Aufgescheucht jagen sie davon, lassen einander kaum aus den Augen. Stadttauben sind monogam, die Nester bauen sie zusammen. Selbst wenn sie zu Untreue neigen, Zärtlichkeit lassen sie nur der eigenen Partnerin zukommen.
Da stellt sich der Hunger wieder ein, ganz unverhofft und fordernd. In meiner Manteltasche treibe ich ein Bonbon auf. Das lutsche ich lange hinter zusammengehaltenen Zähnen. aber sättigen kann es mich nicht, natürlich nicht, wie sollte es auch.
Ich will mich nicht rühren. Das Gesicht versenke ich tiefer in den Kragen, bis nur noch die Augen und ein Stück Nase hervorschauen. Ich warte und beobachte und fülle den Mund mit Speichel, den trinke ich. Die Finger frieren. Ich knote die Hände ineinander und ich glaube, das ich schlecht rieche. Mein letztes Bad liegt einige Tage zurück.

Der Tag geht in den Abend über. Ich mache mich auf den Rückweg. Schon auf dem Treppenabsatz zum oberen Stockwerk kann ich die dicke Nachtigall in ihrem Zimmer singen hören. Ihre Hornhaut schabt über die Dielen. Sie tanzt. Das Licht bricht unter dem Türspalt. Vorsichtig schleiche ich mich vorbei und drehe den Schlüssel zur eigenen Kammer. Zwei Mal abgeschlossen ist die Tür.
Zur späten Stunde ist der Empfang nicht besetzt. Die Wirtin hat sich aufgemacht, das steht auf der Notiz, die sie hinterlassen hat. Ansprechbar will sie erst wieder in den frühen Morgenstunden sein. Bei dringenden Angelegenheiten wende man sich an die Tochter.
Ich streife die Kleidung ab bis zur Unterwäsche. Die Schuhe trete ich in die Ecke. Es ist kühl hier, das liegt daran, dass das Fenster noch offen steht. Ich schließe es, so brauche ich die Stille von der Straße nicht zu ertragen. Die eigene Stille ist ein Rückzugsort, in der hat man sich eingenistet. Fremde Stille dagegen kann jederzeit wieder aufbrechen. Es liegt eine unerträgliche Spannung in ihr.
Ein Waschbecken gibt es im Zimmer, für alles weitere steht das Gemeinschaftsbad zur Verfügung. Im Halbdunkeln mache ich eine Katzenwäsche und nehme mir vor, früh aufzustehen, um die Wirtin anzutreffen und mich zu erkundigen, ob jemand vom Theater für mich angerufen hat. Wäre die Benachrichtigung schriftlich eingegangen, hätte sie mir die Wirtin unter den Türschlitz geschoben. Auf dem Boden finde ich nichts vor. Es muss also ein Anruf gewesen sein. Das sage ich mir so lange, bis es mich ruhig macht.
Das Lied des Mädchens aus dem Nebenzimmer ist ein trauriges. Ich lege mich ins Bett und lausche. Zum ersten Mal in einer dieser vergeudeten Nächte wünschte ich, mich von ihr in den Schlaf tragen zu lassen. Alles wird mir bedeutungslos, allen voran das eigene Dasein.
Ich bin müde, immerzu müde.
Im Traum sehe ich die Winzerin ihre roten Trauben zwischen den Fingern zerdrücken. Es kommt aber Blut daraus, nicht Saft. Den füllt sie in Gläser. Wir trinken und trinken, bis uns schwindelig wird. Dann darf ich ihre Brüste küssen. Sie reißt die Reben aus der Erde. Davon bröckelt der Boden und Risse tun sich auf. Ich muss mich an Halmen halten, balle die Finger darum, das kostet mich Kraft. Mein Mund wird trocken, da hebt die Winzerin ihren Rock und beugt sich über mich, legt all ihr Gewicht auf mich und drückt mir den Atem zu. Noch nie, denke ich, habe ich in Träumen fliegen dürfen.
Ich wache auf und schmecke Blut. Es hockt ein Mädchen über mir, als ich die Augen öffne. Das hat mir die Lippen wundgeküsst. Ich spüre ihr Gewicht auf meinem Brustkorb. Es kann kein Traum mehr sein. Sie drückt ihre Hand auf meinen Mund, hebt zu einer Geste an: dass ich still sein soll, will sie mir zeigen, noch bevor ich etwas sagen kann. Mein Atem keucht warm zwischen ihren Fingern hervor. Ich brauche sie nicht anzusehen, um zu wissen, dass es die Wirtstochter ist. Ihre Haut ist mit einem eigentümlichen Geschmack behaftet.
„Ich weiß davon“, höre ich sie flüstern. „Da war ein Anruf. Man sucht nach dir. Du kannst aber bleiben, vorausgesetzt -“ Hier stirbt ihre Stimme. Sie trägt ein weißes Nachthemd und hat das Haar zum Zopf gebunden. Ihr Kopf ist wie ein riesenhafter Ballon ohne Gesichtszüge. Es scheint nichts menschliches an ihr. Die Knie hat sie in die Matratze gestemmt, die Waden mir in die Seiten gedrückt. Ich könnte sie von mir stoßen, doch was sollte es bringen? Wenn sie zu Boden geht, weckt es die Aufmerksamkeit der Falschen.
„Ich nehme die Hand herunter“, flüstert sie weiter. „Wirst du still sein?“
Es bleibt mir nichts übrig als zu nicken.
„Was willst du denn?“, zische ich. Kein Anlass für falsche Höflichkeiten. Sie ist ein Eindringling. Gleich am Morgen werde ich Beschwerde einlegen. Ich ziehe den Körper ein wenig zurück und drücke mich von ihr weg. Sogleich verliert sie den Halt und muss sich an der Wand abstützen. Das Nachthemd verrutscht dabei, ich aber habe kein Interesse am Anblick ihrer bloßgelegten Haut. Beharrlich bleibt sie auf mir sitzen, den Stoff richtet sie nicht. Unter uns kreischt das Lattenrost. Das Bett ist nicht für zwei gedacht. Manchmal denke ich an ihren Namen. Ich erinnere mich kurz und vergesse ihn wieder.
„Ein Mann rief an und fragte nach dir.“
„So?“ Die Hoffnung, was für ein süßes Gefühl. Für einen Moment lässt es mich sämtliche Sorgen vergessen. „Vom Theater?“
„Das hat er nicht gesagt. Nur, dass er dich bei uns vermutete und gerne gesprochen hätte.“
„Hat er den Grund genannt?“
„Den Grund nannte er nicht. Nicht sofort. Nicht direkt. Aber ich habe verstanden. Lass mich dir ausrichten, es geht um V.“ Und sie fällt in ein Kichern ein.
„Um V.“, wiederholt sie für mich, als ob ich es nicht verstanden hätte. Plötzlich wird sie ernst. Ihr Lachen verklingt. Und ich hänge nur dem Wunsch nach, fort zu gehen und zu jemand anderem zu werden. Nur weg aus dieser Enge, raus aus diesem Zimmer, barfuß auf die Straße, will mich von der Nacht verschlucken lassen und zusehen, wohin es mich zieht.
Geliebte V., schon der Anfang deines Namens ist wie eine Pfeilspitze. Und wie sie sticht!
„Runter mit dir!“, fahre ich das Mädchen an. „Raus hier, raus raus raus!“ Aber meine Stimme ist dünn. Das Mädchen tätschelt mir über die Wange.
„Du weinst ja“, sagt sie und lässt es wie eine Selbstverständlichkeit klingen.
„Komm mit auf mein Zimmer. Es wird dich dort niemand vermuten.“
„Was hat er gesagt?“, frage ich. „Der Mann, der anrief und nach mir fragte.“
„Dass sie dich holen kommen. Gleich morgen früh.“ Endlich lässt sie ab von mir. Sie holt mir die Schuhe aus der Ecke, nimmt meinen Mantel von der Stuhllehne herunter. Sie zieht meine Papiere zwischen den Handtüchern hervor. Da mein Versteck bekannt war, fühle ich mich der Lächerlichkeit preisgegeben. Wie sicher war ich mir doch, dass niemand etwas bemerkt, wie schlau war ich mir vorgekommen.
„Komm“, sagt sie und hilft mir beim Binden der Schnürsenkel. Nur in Unterwäsche stehe ich vor ihr, die klobigen Treter an den Füßen, die vorne an der Sohle auseinandergehen. Ich bin ein schäbiger Mensch, innen wie außen. Ich lasse mich aus dem Zimmer führen und auf den dunklen Flur. Die anderen Gäste schlafen in ihren Betten. Es ist kein Geräusch zu hören. Von unten kommt ein wenig warmes Licht, aber gerade genug, um nicht gegen eine Wand laufen zu müssen. Die Tür nebenan steht offen. Auch im Zimmer sind die Lampen aus. Es bleibt zu erahnen, dass es dem anderen von der Einrichtung ähnelt. Zur rechten Seite das Bett, zur linken der Schrank und ein Waschbecken mit Spiegel. Am Fenster, dessen Vorhänge fest zugezogen sind, wird ein Schreibtisch stehen. Ich hatte gedacht, sie würde es sich anders einrichten, die Tochter der Wirtin. Aber so oft habe ich mich irren müssen, dass es mich gar nicht mehr verblüfft.
„Wir müssen im Dunkeln bleiben, nur bis wir weitersehen. Ist dir das recht?“
„Ja“, sage ich, weil es mir gleich ist. „Ja, das ist mir recht.“
Wir betreten das Zimmer und sie schließt die Tür.
„Setz dich doch auf das Bett. Du musst durcheinander sein.“
„Ja“, sage ich und folge ihrem Vorschlag. Das Laken ist kalt, das Kissen aufgebauscht. Niemand hat darauf gelegen. Ich versenke mein Gesicht darin und erstarre. Lange weiß ich nicht, was ich tun kann, da tippt sie mir auf die Schulter.
„Ich hole dir Essen. Bin gleich zurück.“
Ich höre ihre Füße über den Boden schaben, dann das Öffnen und Schließen der Tür. Es macht Klack. Sie dreht den Schlüssel herum.
Ist mir auch recht, denke ich, bin so genügsam wie lange nicht mehr.
Es war vor drei Jahren, da mir V. begegnet war, in ihrem bunten Sommerkleid und mit den hellen Sprossen um Nase und Wangen. Ich war verliebt in sie, ich habe sie gesehen und für mich beansprucht, habe ihr Blumen mitgebracht, ihr Geschenke gemacht, habe sie ins Kino gedrängt, zum Essen in teure Lokale geladen und spendierte ihr Alkohol in abgelegenen Bars. Nie ließ sie sich von mir nach Hause begleiten. Das war das einzige, das ich ihr zugestand. Manchmal bemerken die Menschen das Glück nicht, das vor ihnen steht. Auch ihr ist es nicht sofort aufgegangen.
Vor den Kollegen habe ich geprahlt, den meisten war sie nicht aufgefallen. Sie war nur kurz angestellt, ein Sommerjob. Morgens brachte sie die Post vorbei, goss die Blumen für den Geschäftsführer, erledigte Telefonate und kleine Aufträge für ihn. Sie war noch jung und unerfahren, da wurde ihr nicht viel zugetraut. Zu unrecht, wie ich protestierte. Man wies mich dann zurecht.
Zum Feierabend gab ich ihr Kosenamen und Berührungen mit, die ich dem Zufall überließ, aber nicht immer. Manchmal wanderte meine Hand bewusst zu ihrer herüber, manchmal neigte sich mein Kopf mit Absicht nah an ihre Schulter heran. Sie roch, wie scheue Mädchen riechen.
Ich liebte sie damals und wusste nicht, dass es die Art von Liebe war, die sich nur einseitig trägt.
Die Wirtstochter kommt mit einem Tablett, darauf Brot und Käse und eine Flasche Wein. Sie zieht den Korken heraus.
„Trink davon. Das wird dich ruhig machen.“
„Nichts wird mich ruhig machen“, nuschele ich und verteufele sie. Was sie sich einbildet, mir unentwegt Ratschläge zu geben.
„Der Wein ist aus der Gegend. Ein Roter. Wirklich gut.“
„Kann sein“, sage ich und muss an den Traum denken. Mein Kopf wird schwer. Hunger zieht mir den Magen zusammen. Ich krümme mich und richte mich auf. Mit verklebten Augen kann ich noch schlechter sehen.
Das Brot schmeckt trocken, aber der Käse ist gut. Gierig lasse ich mir von ihr eine Scheibe nach der anderen abschneiden, bald esse ich den Käse ohne Brot und sie reicht mir den Wein, ich spüle nach. Gleich der erste Schluck vertreibt die Kälte aus mir.
„Wirklich gut“, sage ich und muss lächeln. Ich glaube, sie lächelt zurück. Ich trinke noch mehr. „Willst du nicht?“, frage ich. In Gesellschaft trinkt es sich angenehmer.
„Nein danke. Ich vertrage nichts.“
„Du bist auch noch jung, was?“, sage ich. „Wie alt bist du eigentlich?“
„19, geworden.“
„Kürzlich?“
„Im Mai.“
„Na, das ist eine Weile her. Trotzdem, auf dich.“ Ich hebe die Flasche und proste ihr zu. Sie hebt die Hand, hat nichts darin. Ich trinke.
„Weiß deine Mutter davon, von allem hier, dem Anruf und dass ich bei dir bin?“
„Wie sollte sie, sie ist nicht im Haus. Immer Mittwochs geht sie am frühen Abend in die Stadt, dort bleibt sie bis zum nächsten Morgen. Nicht meine Angelegenheit.“
„So? Aber meine Angelegenheiten machst du zu deinen? Was hat der Mann überhaupt gesagt? Erzähl mir alles, von Anfang an.“
„Ich weiß es nicht wörtlich. Nur das Wichtigste: dass du dich schuldig gemacht hast. Dass man dich suchen würde.“
„Worin schuldig?“
Sie lacht: „Das weißt du am besten.“
„Und du?“
„Ich weiß es auch.“
„Was weißt du denn?“
„Von euch weiß ich. Von allem, was mit und nach V. kam.“
„Das kann dir der Mann nicht erzählt haben. Du spinnst dir etwas zusammen. Wer war er denn?“
„Ein Bierfahrer. Sagte, er wäre V. begegnet.“
„Wann soll das gewesen sein?“
Sie schweigt.
„Ich kenne keinen Bierfahrer“, sage ich und lehne mich zurück. Die Flasche halte ich fest, die reißt mir niemand aus der Hand.
„Und V. hat auch keinen Bierfahrer gekannt.“
„Jetzt schon“, sagt das Mädchen ungerührt.
„Woher du das wissen willst ...“
„Hättest du gerne, dass ich mich auf dich setze?“, fragt sie plötzlich.
„Warum sollte ich das wollen?“
„Mir war, als hättest du mich angestarrt.“
„Nein“, sage ich, „ganz sicher nicht.“
„Ich trage nichts darunter. Hier, schau.“ Sie hatte sich zum Schreibtisch begeben. Jetzt steht sie vom Stuhl auf und hebt das Nachthemd hoch. Ihre Beine kann ich ausmachen, gerade so, sonst ist alles grau und konturlos und entzieht sich meinen Augen.
„Nimm es wieder runter“, sage ich. Stattdessen kommt sie auf mich zu.
„Stadttauben“, sagt sie, „sind monogam, die Nester bauen sie zusammen. Selbst wenn sie zu Untreue neigen, Zärtlichkeit lassen sie nur der eigenen Partnerin zukommen. Aber -“, sagt sie, „wir sind ja keine Tauben.“ Dann öffnet sie die Beine und lässt mich schauen. Es dringt säuerlich aus ihr.
Die Flasche rutscht mir aus der Hand und zerläuft auf dem weißen Laken.
Traurig ist, ich habe das Mädchen einst wirklich lieben wollen. Und ich hatte gedacht, ich liebte alles an ihr. Von den Sommersprossen bis hinab zu dem fleckigen Muttermal, das sich zwischen ihren Schenkeln verbarg.
„Du hast das Mädchen lieben wollen und ihr dann Astern eingepflanzt“, sagt die Wirtstochter, die auf mir sitzt und ihr Becken vor und zurück schiebt.
Dunkelheit sickert durch die Wände und auf die Möbel. Nie zuvor habe ich ein so dichtes Schwarz gesehen. Es legt sich über das Zimmer, es hüllt den Körper ein, den ich ertaste, aber nicht mehr sehen kann. Mir kommt ein absurder Gedanke: ich würde gerne wissen, wie spät es ist. Mir scheint, als wären Tage vergangen und noch immer hat sich der Morgen nicht gezeigt.
„Das hat der Bierfahrer gesagt“, sagt das Mädchen. „Am Telefon.“
„Ist etwas mit dem Wein?“, frage ich. Jedes Wort ist mit Anstrengung verbunden. „Hast du etwas hineingetan?“
Sie drückt ihre Lippen auf meinen Mund. „Nein“, sagt sie. „Der Wein ist von hier. Es ist alles in Ordnung damit.“
Was hat man mir über die Jahre nicht alles einreden wollen. Was hat man mir nicht alles genommen. Vieles habe ich verloren und eingebüßt. Nun nicht auch noch den letzten Rest Jugend, nicht noch mehr von meiner Zeit. Ich will nicht immerzu träumen müssen. Der Anfang war getan. Den lästigen Beruf gekündigt und einen Neuanfang gewagt. Mutig, mutig, hat man mir gesagt und mit Verständnis gespart. Was will ich mit Verständnis, wenn mir die Zuversicht gewiss ist. Und die Freiheit. Mehr als die Freiheit liebe ich nicht.
Und dann brachte V. mir den Umschlag. Und im Umschlag war das Bild des Kindes, des kleinen Bouquet, das hatte ich in sie eingepflanzt. Da war mir nichts anderes übrig geblieben, als ihr die Bauchdecke aufzubrechen und es herauszunehmen. Es blühte da nicht mehr, war beinah darin vergangen, als ich es in den Arm nahm. Jede Blüte habe ich einzeln traumgeküsst, so leid hat es mir getan. Es hatte sich Mühe geben wollen, mir ähnlich zu werden.
„Ich kann nichts dafür.“
„Morgen kommt der Bierfahrer“, sagt das Mädchen durch die Schwärze.
„Ja“, sage ich, „das weiß ich doch, das weiß ich doch.“ Bleischwer wiegt die Müdigkeit. Oder ist es mein Gewissen? Das frage ich mich noch, dann schlafe ich ein.

„Haben Sie sich aus der Küche bedient?“, fragt die Wirtin am nächsten Morgen.
„Ihre Tochter hat mir etwas vorbeigebracht.“
„Hat sie es eingetragen?“
„Ich wüsste es nicht.“
„Lassen Sie mich sehen.“ Die Wirtin nimmt ihr schwarzes Buch, feuchtet den Finger an und geht die Seiten durch.
„Wie ich geahnt habe. Sieht ihr ähnlich. Was war es denn?“
„Etwas Brot, Käse und Wein. Den Roten.“
Das trägt sie ein und ich bezahle.
„Schade, dass sie schon fahren wollen“, sagt sie. „Und das so vorzeitig. Hat Ihnen etwas nicht gefallen?“ Sie macht ein betroffenes Gesicht. Es ist ehrlich gemeint.
„Manches kommt unverhofft.“
„Aber Sie kommen wieder.“
„Bestimmt.“ Ich stelle den Koffer ab und reiche ihr die Hand, merke, dass ihr eine Umarmung lieber gewesen wäre, aber ich kann es nicht jedem recht machen. Wenn sie bemerkt hat, dass meine Hände zittern, so will sie es nicht zeigen.
„Ich werde meine Tochter bitten, Sie zum Bahnhof zu begleiten.“
„Vielen Dank, aber das ist nicht nötig“, sage ich. Ich hatte bereits das Vergnügen, will ich hinzufügen.
„Aber ein Taxi soll sie Ihnen rufen. Ella, Ella, komm mal her!“
Schritte kommen aus dem Esszimmer. Eine rundliche Gestalt erscheint im Türrahmen.
„Was ist, Mama?“ Mit einem Geschirrtuch trocknet sich das Mädchen die Hände ab.
„Ich habe gerade zu tun.“ Ihre Stimme gleicht einem Krächzen. Vieles hat ihr die Mutter mitgegeben, auch die Statur und das Gesicht. Ich denke an das Mädchen aus dem Nebenzimmer und werde traurig dabei.
„War der Bierfahrer hier?“, frage ich. Die Frage gelangt mir so unverhofft über die Lippen, dass es mich selbst entsetzt.
„Der Bierfahrer? Der kommt nicht mehr.“ Beide sehen mich an, Mutter und Tochter, die sich eine Stimme teilen. Ich könnte nicht sagen, wer mir die Antwort gab.
„Der ist ersoffen“, sagt die Jüngere dann.
Ich sehe zu, dass ich hinausgelange.
„Also dann“, sage ich und winke noch schnell zum Abschied, bevor sich die Tür schließt. Mein Koffer kommt mir schwer vor, was habe ich bei mir?
Der Markt bleibt geschlossen an diesem Tag. Es sind kaum Menschen auf der Straße, denn die Kälte sticht. Immer mehr Wolken schließen sich zusammen. Die Luft riecht nach Regen, aber nicht freundlich. L. ist eine Stadt, die mich nicht dulden will. Ich werde weiterziehen, aus Liebe zur Freiheit, und bin doch müde, so müde bin ich, seit Jahren schon.

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